(Entnommen der Ausgabe 2/2005 der "Heimat Dortmund", der Zeitschrift
des Historischen Vereins für Dortmund und die Grafschaft Mark e. V. in
Verbindung
mit dem Stadtarchiv Dortmund)

Zur Entwicklung der Freimaurerei im 19. Jahrhundert

  Die Anfänge

Das eigentliche Kapitel der Freimaurer beginnt 1717 mit der Gründung der Großloge von England. Von da an hören die Spekulationen über Templer, Rosenkreuzer, Steinmetzgilden auf, zumal seit 1723 die Zusammentreffen der Brüder in ihren Sitzungsprotokollen überliefert sind. Der Pastor James Anderson verfasste 1723 sein Konstitutionenbuch, in dem er mit sparsamen Vorschriften festlegt, wodurch Freimaurer sich als Freimaurer ausweisen.

Im 17. und 18. Jahrhundert, in dem sich die Engländer für Magie, Alchemie und Astrologie begeistern konnten – auch Newton war von dieser Mode befallen – war es nicht leicht sich vorzustellen, dass Freimaurerei ausschließlich soziale Ziele verfolgt. Die Suche nach dem „Stein der Weisen“ ist durch Freimaurerei verwandelt in die Suche nach der Vervollkommnung des Menschen – in moralischer Hinsicht. So ist es verständlich, das sich von Anfang an ein Hauch von Geheimnis und Abenteuer auch um die Freimaurerei niederschlägt.

Das neue an der Freimaurerei war, dass sie eine uneigennützige Bewegung ist, die weder die Entdeckung einer neuen, Sklaven liefernden Kolonie pries, noch die ehemalige Suche nach dem Stein der Weisen der Alchimisten, noch Zauberformeln, einen Liebestrank oder ein Wundermittel. Die Freimaurerei bekannte sich offen zum Begriff der Humanität. Nach Deutschland erhält die Bewegung verhältnismäßig spät Eingang. Erst am 6. September 1737 entstand die erste Loge in Hamburg, aber zwei Jahre später, am 14. August 1739, ließ sich Kronprinz Friedrich von Preußen in die Loge aufnehmen. Als er 1740 (als Friedrich der Große) König wurde, entstanden überall Logen: in Leipzig, in Hannover, in Braunschweig, in Frankfurt, und später, 1855, auch in Dortmund.

Gegner der Freimaurerei sahen immer eine Gefahr in der Verwendung abstrakter Begriffe statt starker Worte der Macht. Statt der Stärkung der Religion, die jeweils im Bündnis mit den Mächtigen stand, predigten Freimaurer die Toleranz gegenüber allen Religionen. Statt Priestern und Königen scheinbar unfehlbare Wahrheiten über Gott und die Welt nachzusprechen, pflegten sie das Prinzip der Demokratie und die strikte Trennung von Staat und Kirche.

Bürger und Freimaurer

Der Beginn der freimaurerischen Arbeit in Dortmund fällt mit dem Gründungsjahr der Loge im Jahr 1855 in die große Zeit des Bürgertums in Deutschland. Es ist kein Wunder, dass Bürgertum und Freimaurerei in Dortmund eine gemeinsame Basis der Kultur bilden. Welches aber sind die bürgerlichen Charaktereigenschaften, mit denen sich Freimaurerei identifizieren kann?

Der Liberalismus ist die Lebensphilosophie des aufstrebenden Bürgertums. Nicht immer sind deren Prinzipien jedoch bewusst präsent. Meistens zeigen sie sich allein durch die gelebte Praxis. In ihr bilden sich die Grundformen der religiösen und weltanschaulichen Toleranz sowie die der politisch-demokratischen Meinungsbildung aus. Weil der Liberalismus seine Lebensphilosophie selten bewusst ausspricht, gelten viele seiner Grundregeln als oberflächlich und von minderem moralischen Gehalt. Aber das Ausbleiben einer obersten Regel oder dogmatischen Grundwahrheit des Liberalismus ist seine eigentliche Stärke.

Utilitarismus nach englischem Vorbild

Im Geist des Liberalismus prägen sich utilitaristische Ethiken aus, wie sie beispielhaft der englische Philosoph Jeremy Bentham (1748-1832) formuliert hat. In seinem wirtschaftswissenschaftlichen Essay In Defense of Usury (1787) geht er von der These aus, dass jeder am besten beurteilen kann, was für ihn am nützlichsten ist. In Principles of Morals and Legislation (jeweils in geringer Auflage 1780 und 1789 veröffentlicht) begreift er Leid und Freude als Konstanten der menschlichen Natur, die bei der Bestimmung des Glücks eine entscheidende Rolle spielen.

Er formuliert in dieser Arbeit das Prinzip der Nützlichkeit, erörtert das Problem der Beweisbarkeit dieses Prinzips und diskutiert die Prinzipien, die mit dem Utilitarismus konkurrieren. Bentham verweist auf vier Quellen von Freude und Schmerz und skizziert einen hedonistischen Kalkül bzw. Nutzenkalkül, der es erlauben soll, alle erdenklichen Empfindungen von Freude und Leid, selbst die heterogener Natur, gegeneinander aufzurechnen und eine Gesamtbilanz des menschlichen Glücks aufzustellen.

Wie Adam Smith sah Bentham keinen Gegensatz zwischen persönlichem und allgemeinem Wohlergehen. Das fundamentale Prinzip ist für Bentham das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl von Menschen. Dieses Prinzip verband er mit dem demokratischen Prinzip: Jeder hat für einen, niemand für mehr als einen zu gelten. Nicht der Rückgriff auf irgendwelche Autoritäten, sondern das Streben nach Glück bildet die Grundlage menschlicher Sittlichkeit.

Bentham sah in seinem Ansatz eine rationale, praktische Orientierungshilfe in Gestalt des hedonistischen Kalküls. Danach lässt sich die mit dem Handlungserfolg verbundene Lust bemessen nach Stärke und Dauer, im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens und auf die möglichen Nebenfolgen und nicht zuletzt im Hinblick auf die Anzahl der an ihr beteiligten Personen. Im Sinne des wohlverstandenen Eigeninteresses erweist sich der reine Egoismus als falsch berechnet, weil er über den individuellen Augenblick der Lust die lange Dauer des Gesamtnutzens übersieht.

Aktive Toleranz und deutsche Aufklärung

Für den Gedanken der Toleranz ist es entscheidend, dass nach dieser Lehre kein anderer Mensch bestimmen kann, wie ich selbst glücklich werde. Das deutsche Wort „Glück“ gibt dabei nur unzureichend wieder, was das englisch Wort „happiness“ meint, das in diesem Sinn auch ein wesentlicher, von Freimaurern beinflusster Bestandteil der amerikanischen Verfassung geworden ist. Mit diesem liberalistischen Geist teilen Freimaurer die Überzeugung, dass es keinen ausgesprochenen obersten Heilsgedanken gibt. Es gibt keine metaphysischen Experten, die für alle Menschen bestimmen können, was gut für sie sein soll. Jeder habe das Recht nach seiner eigenen Facon sein Lebensglück zu gewinnen.

Gleichwohl eröffnet dieser liberale Geist der gleichgültigen Beliebigkeit nicht ihre grenzenlosen Pforten. In der Freimaurerei kommt der Ausschluss der Beliebigkeit in moralischer Hinsicht besonders zum Tragen, weil hier die bis heute für weite Bereiche der Moralphilosophie insgesamt gültige Sittenlehre des deutschen Philosophen Immanuel Kant (1724-1804) dem liberalistischen Denken eine zusätzliche Dimension verleiht. Aus dem liberalistischen Verzicht auf Bevormundung durch die Autorität der Kirchenvertreter und anderer absolutistisch Herrschenden gewinnt Kant den Gedanken einer gebildeten Öffentlichkeit. Sein geistreich verfasster Essay Was heißt Aufklärung? bringt es unmissverständlich zum Ausdruck. Es bedürfe dazu allein eines Geistes der Freiheit, der darin besteht, niemanden daran zu hindern, seine Auffassung in wichtigen und weitreichenden Dingen öffentlich zur Diskussion zu stellen. „Dieser Geist der Freiheit“, sagt Kant, „breitet sich … aus, selbst da, wo er mit äußeren Hindernissen einer sich selbst missverstehenden Regierung zu ringen hat. Denn es leuchtet dieser doch ein Beispiel vor, dass bei Freiheit, für die öffentliche Ruhe und Einigkeit des gemeinen Wesens nicht das mindeste zu besorgen sei. Die Menschen arbeiten sich von selbst nach und nach aus der Rohigkeit heraus, wenn man nur nicht absichtlich künstelt, um sie darin zu erhalten.“

Wenn man den Menschen nicht permanent von oben herab vorschreiben will, was gut für sie sein soll, dann arbeiten sie sich von selbst aus der eigenen Rohigkeit heraus. Das ist eine Form der aktiven Toleranz. Und dieser Geist der Freiheit ist das Prinzip der freimaurerischen Logenarbeit. Freimaurer wissen nicht, was das für alle Menschen Gute ist. Aber sie glauben, dass sich aus der beständigen gemeinsamen Arbeit und aktiven Anteilnahme an den Interessen, den Freuden, dem Leid, der Religion und der politischen Denkweise des jeweils Anderen, ein Bild für das allen Menschen gemeinsame Gute am Horizont andeutet. In Hinsicht der Erreichbarkeit des Zieles sind wir alle immerfort als perfektibel zu betrachten, nämlich als Suchende, die ihr Endziel noch nicht erreicht haben.

So sind zwei Aspekte liberalistischer Grundhaltung für das Prinzip der Freimaurerei von zukunftweisender Bedeutung: Der Umstand, dass kein Mensch dem anderen vorschreiben kann, wie er sein Lebensglück zu finden habe, und dass eine Atmosphäre ungehinderter Äußerung verschiedener Meinungen dem Bewusstsein eines globalen menschlichen Gutes dienlich ist, ohne es dogmatisch zu verkünden.

Klaus-Jürgen Grün

Literaturhinweise:

Stefan-Ludwig Hoffmann: Die Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft 1840-1918. Göttingen 1999

Karin Schambach: Stadtbürgertum und industrieller Umbruch Dortmund 1780-1870. München 1996

 

 

Die „Alten Pflichten“ von 1723, das bis heute gültige Grundgesetz der Freimaurer.
Lovis Corinth: Logenbrüder (1899). Corinth war Freimaurer und Mitglied einer Loge in München.